Tagebuch

20. November 2013

Interreligiöses Zentrum - Wie am Hüttenweg doch noch eine Synagoge entstehen könnte
Katrin Lange

Seit Jahren soll im interreligiösen Zentrum am Hüttenweg in Berlin-Dahlem eine Synagoge gebaut werden. Die katholische "All Saints"-Gemeinde ist jedoch dagegen. Dennoch scheint eine Lösung möglich. […]

Drei Pläne für neue Synagoge am Hüttenweg
Die Pläne für einen Synagogenbau am Hüttenweg liegen bereit. Drei Konzepte sind in der Auswahl. So könnte der Innenhof, der derzeit eine Grünfläche ist, überdacht und zu einem Synagogenraum ausgebaut werden. "Mit dieser Variante müsste nur wenig an der bisherigen Struktur geändert werden", sagt Rabbiner Andreas Nachama. Der Gemeindesaal bliebe unangetastet und die Kosten hielten sich in Grenzen. Eine weitere Möglichkeiten wäre, andere Räume zu entkernen. Dritte Variante ist ein Neubau. "Das ist der größte Aufwand, könnte aber architektonisch sehr schön sein", so Nachama. Welches Konzept auch zu Tragen komme: Wichtig sei, dass die Gemeinschaft Sukkat Schalom am Hüttenweg endlich einen Gebetsort bekomme. "Der größte Teil der Gemeinde wohnt im südlichen Grunewald und Steglitz." […]


08. November 2013


Inforadio

Gedankenloser Umgang mit der Geschichte
Sylvia Tiegs

Die aktuelle Ausstellung der "Topograhie des Terrors" erinnert an Synagogen, die in der Pogromnacht geschändet wurden. Sylvia Tiegs hat Andreas Nachama, den Leiter der Gedenkstätte getroffen.

"Es ist teilweise viel Schindluder getrieben worden im Umgang mit der Geschichte", meint Andreas Nachama, Leiter der Topographie des Terrors.

Es gebe Orte, an denen ehemalige Synagogen, die in der Pogromnacht geschändet worden seien, zum Teil als Geräte- oder Spritzenhaus der Feuerwehr genutzt wurden. Erst in den 1980er Jahren, manchmal noch später sei man auf die Idee gekommen, die Gebäude umzubauen und für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Es sei geschmacklos, wenn eine Synagoge zu einem Privathaus umgebaut werde und die Hauptsorge des Besitzers der Möblierung des ehemaligen Sakralbaus gelte.

Wie kann eine angemessene Erinnerung aussehen? In dieser Frage gebe es immer noch eine gewisse Unsicherheit.

Seine Mutter erlebte die Pogromnacht in Berlin
Der Vater von Andreas Nachama wurde 1943 von Thessaloniki aus nach Auschwitz deportiert und gehörte zu den wenigen Überlebenden. Nach Kriegsende kam er nach Berlin. Die Mutter von Andreas Nachama war 1938 knapp 20 Jahre alt und erlebte die Pogromnacht in Berlin. In direkter Nachbarschaft wurden Wohnungen aufgebrochen und geplündert.

In den Tagen nach dem 9. November 1938 wurde das Ausmaß der Zerstörung richtig sichtbar. Die Angst in der Jüdischen Gemeinde war groß. Sein Großvater nahm sich wie viele andere das Leben, weil er in der Emigration keinen Ausweg sah.

Da Nachamas Mutter noch minderjährig war, konnte sie allein nicht fliehen. Sie wurde von Nicht-Juden versteckt und hat die Diktatur überlebt.

Zeitzeugen werden weniger
Die Zeitzeugen, die noch aus eigener Anschauung von den Ereignissen erzählen können, werden immer weniger.

Doch durch die intensive Auseinandersetzung mit der NS-Zeit in den letzten Jahren, gebe es viele Video- und Tondokumente, die für die Gedenkarbeit wichtig seien. Die zahlreichen Zeitzeugenberichten ließen zwar kein komplettes Bild entstehen, aber durch die unterschiedlichen Perspektiven entstehe Betroffenheit.

"Man bekommt immer nur eine Facette", so Nachama. Aber durch Fotos und andere Dokumente könne man sich ein umfassendes Bild machen.

Aufgabe und Herausforderung der Historiker werde es sein, Details künftigen Generationen so zu präsentieren, dass ihr Interesse geweckt wird.


07. November 2013

Besonderes Bewusstsein
Kollektives und individuelles Gedenken sind zentrale Punkte im Judentum
Andreas Nachama

Kollektives Gedenken hat seinen festen Platz im jüdischen Kalender, so beispielsweise an die biblische Sklaverei in Ägypten, das babylonische Exil oder die Zerstörung des Tempels durch die Römer. In der Tora werden die Israeliten dazu angehalten, sich ihrer Geschichte zu erinnern: »Gedenke, was dir Amalek getan« (5. Buch Mose 25,17). Pessach ist der zentrale Erinnerungstag nicht nur an den Auszug aus Ägypten, sondern auch an die grausamen Begebenheiten der Sklaverei: »Gedenkt dieses Tages, an dem ihr aus Ägypten gezogen seid, aus dem Sklavenhaus, dass euch der Ewige von hier herausführt.«

Auch individuelles Gedenken hat mit der Jahrzeit oder Jiskor fest verankerte Punkte in unserem Leben. Aber wie gehen wir Juden mit den im Verlauf der jüdischen Geschichte hinzugekommenen Katastrophen um? Das Jüdische Museum Berlin zeigt gerade seine erste große Judaica-Ausstellung unter dem Titel »Alles hat seine Zeit. Rituale gegen das Vergessen«. Hier werden anhand von Objekten diverse Versuche nebeneinandergestellt, mit diesem hoch aufgeladenen Thema umzugehen, die zuweilen unterschiedlicher nicht sein könnten – von Kunstwerken des 21. Jahrhunderts bis zu jahrhundertealten Preziosen.

Identitätssuche
Die gegenwärtige Situation zahlreicher jüdischer Menschen ist durch intensive Identitätssuche gekennzeichnet, die gelegentlich auch als Krise bezeichnet wird. Was diese Identitätssuche besonders dringlich macht, ist der Agnostizismus westlicher Gesellschaften. Einmal ganz abgesehen von der Schwierigkeit einer jüdischen Theologie nach Auschwitz, ist die Religion nicht sehr weit oben in der Skala der Glaubens- und Handlungsgrundsätze unserer Zeitgenossen angesiedelt.

Wie aber ist man mit der Erinnerung an die Opfer der NS-Herrschaft umgegangen? Der erste Gedenkgottesdienst für die Novemberpogrome von 1938 fand am 9. November 1939 in der Synagoge Heidereutergasse in Berlin-Mitte statt. Das Gebäude war bereits vor der sogenannten Reichskristallnacht im Besitz der Deutschen Post, die in dem barocken Bau ihr Hauptpostamt einrichten wollte und es verstand, ihn vor Zerstörungen durch die Schlägertrupps der SA zu schützen. Bis zur Umgestaltung war das Haus von der Post an die Jüdische Gemeinde zu Berlin vermietet worden. In diesem ersten uns bekannten Gedenkgottesdienst erinnerten Gemeindemitglieder namentlich an die am 9. November ermordeten Menschen und kollektiv an die zerstörten Synagogen.

Nach der Befreiung im April 1946 errichteten befreite Juden auf dem Gelände des wegen Seuchengefahr 1945 niedergebrannten KZs Bergen-Belsen einen Gedenkstein, der einem Grabstein ähnelte. In den in Deutschland wieder in Betrieb genommenen Synagogen wurden von Gemeinden Erinnerungstafeln angebracht, die die millionenfachen Opfer kollektiv beklagen, während einzelne Überlebende oder Rückkehrer auf den Gräbern von Familienangehörigen kleine zusätzliche Gedenksteine anbrachten, um der in den Vernichtungslagern oder anderenorts Ermordeten und nicht individuell Bestatteten zu gedenken. In Berlin wurden auch auf jüdischen Friedhöfen entsprechende Orte eingerichtet, an denen Überlebende ihrer Angehörigen gedachten.

Verfolger
Keiner wäre auf die Idee gekommen, dies mit einer Fotodokumentation der Verfolger zu ergänzen, schließlich waren allen die Schrecken der Nazizeit noch sehr deutlich vor Augen. Das sogenannte Dritte Reich war zwar vorüber, aber für die Zeitgenossen noch nicht Geschichte. In Jerusalem entstand auf dem Zionsberg neben dem Grab König Davids eine Gedenkstätte, in der auf Grabplatten ähnelnden Tafeln ausgelöschter Gemeinden gedacht wurde. Die Pinkas-Synagoge in Prag beispielsweise, die unmittelbar neben dem alten jüdischen Friedhof steht, wurde mit den Namen aller 77.000 ermordeten Juden Böhmens und Mährens versehen.

Mehr und mehr traten im Lauf der Zeit staatliche Institutionen, oft von Bürgerinitiativen oder Opferverbänden mit sanfter Gewalt veranlasst, auf und errichteten große Denkmalsanlagen: Yad Vashem in Israel, das Holocaust Memorial Museum in Washington oder das Denkmal für die ermordeten Juden Europas. In Yad Vashem gehörte eine große eindrucksvolle Halle für Gedenkfeiern mit einem ewigen Feuer von Anfang an dazu, auch in Washington – beim Berliner Denkmal hingegen findet sich bis heute nicht einmal eine entsprechende Widmung.

Heute ist auch für nach der Schoa geborene Juden das Gedenken verbunden mit dem Lesen von Texten oder Bildern zur Geschichte der Schoa, denn nur noch wenige Zeitzeugen geben ein Bild der traurigen Erlebnisse. »Secher Liziat Mizrajim« (Zum Gedenken an den Auszug aus Ägypten) ist eine Standardformel jüdischer Gottesdienste eben nicht nur an Pessach, sondern zum Beispiel auch im Kiddusch, dem Weinsegnungsgebet. Das Verb »sachor« (erinnern) in all seinen Formen kommt in der hebräischen Bibel nicht weniger als 169-mal vor. Wer kennt nicht jene endlos langen Namenslisten, die an bestimmte Geschlechter erinnern (vgl. beispielsweise 1. Buch Mose 10, 1–32)?

Wesen

Das Judentum hat ein besonderes Geschichtsbewusstsein: »Wenn Gott sich am Sinai dem ganzen Volk zu erkennen gibt, ist nicht von seinem Wesen oder seinen Eigenschaften die Rede, sondern es heißt: Ich bin dein Gott, der dich führte aus dem Lande Ägypten, aus dem Haus der Dienstbarkeit.« In diesem Sinne ist jeder Jude, der sich – in welcher Form auch immer – zum Judentum bekennt oder bekennen könnte, ob religiös oder nicht, ein lebendiger Gottesbeweis.

Die Erinnerung an die Toten ist ein besonderes Kapitel jüdischer Tradition. Hat nicht Moses vor dem Exodus die Gebeine Josefs ausgegraben, um sie der Befreiung zu opfern? Werden nicht, wann immer ein Grab besucht wird, die Steine wiederaufgeschichtet, um es vor dem Vergehen zu bewahren, was sich im symbolischen Auflegen von Kieselsteinen auf jüdischen Grabsteinen durch die Zeiten erhalten hat?

Zu den Wallfahrtsfesten werden Haskarat Neschamot genannte Seelengedächtnisfeiern veranstaltet, um der Hingeschiedenen namentlich zu gedenken, ein Brauch, der seit den Hasmonäerkriegen im Jahr 165 v.d.Z. üblich ist (2. Makkabäer 22, 39–45). Seit dem 17. Jahrhundert sind sogenannte Memorbücher überliefert, in die jüdische Gemeinden insbesondere diejenigen eintrugen, die durch Kiddusch Ha-Schem, die sogenannte Heiligung Seines Namens, die Bereitschaft zum Selbstopfer unter Beweis stellten.

Es wird Zeit, dass sich alle Rabbiner Deutschlands über die Grenzen von Rabbinerkonferenzen hinweg zusammensetzen, um ein »Seder secher la-schoa« und eine gemeinsame Grundliturgie für dieses Erinnern an diejenigen festzuschreiben, die al Kiddusch Ha-Schem in ihre Welt gegangen sind.


06. November 2013

Braune Heimat
In vielen Regionalmuseen wird die NS-Zeit vernachlässigt. Nicht nur in Ostdeutschland
Andreas Nachama

Oft werde ich mit einem nörgligen Unterton gefragt, wann denn endlich das Verhältnis zwischen Juden und Deutschen so wäre, dass man es als normal bezeichnen könnte. Meine Antwort darauf ist seit vielen Jahren gleich: Wenn es solcher (aufgeregter) Fragen nicht bedarf, dann ist es normal in Deutschland. Aber diese Fragen bergen schon etwas von der Sprengkraft in sich, die das Antriebsmoment unseres Antisemitismus ist.

Unseres Antisemitismus! Ja, wir hier in Deutschland haben verschiedene Formen des Antisemitismus. Grölenden, Parolenschmierenden, durch den Nahostkonflikt eingeschleppten oder giftigen vornehmen Antisemitismus.

Wir reden über Antisemitismus in Deutschland, der, wie eine ARD-Dokumentation unlängst zeigte – und ich kann das leider auch aus eigener Erfahrung bestätigen – in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen ist. Mir begegnet offener Antisemitismus auch von Amtsträgern staatlicher Einrichtungen: Da, wo es nicht um Sonntagsreden über „zerstörte Vielfalt“ geht, stören lebendige Juden. Leicht ist es über Arisierung zu reden, wenn keiner da ist, dem man Wiedergutmachung zahlen muss. Leicht ist es, über christlich-jüdisches Miteinander zu reden, solange man sich nicht zum Bau einer Synagoge bekennen soll, wenn man doch befürchtet, dann könnten die Grundstückspreise fallen.

Die „Kristallnacht“ bei uns in Deutschland liegt nur 75 Jahre zurück, in den vergangenen Monaten wurden andernorts unzählige Kirchen gebrandschatzt und zerstört. Und das sollen jene Nörgler wissen, denen die tastenden Versuche eines christlich-jüdischen Dialogs schon überlebt vorkommen: Religiöse Intoleranz ist sehr lebendig. Antisemitismus (oder andere Formen der Intoleranz) hingegen haben eine lange Tradition und Geschichte.

Nach über 1 800 Jahren christlich-jüdischem Konflikt mit nur wenigen Dialogphasen und Annäherungen gibt es heute einen erst wenige Jahrzehnte alten Dialog, der behütet und liebevoll entwickelt werden soll. Der christlich-jüdische Dialog muss sich jetzt bewähren, in einer Zeit, in der es darauf ankommt, dass wir, da wo wir sind, in unseren Familien, in unseren Schulen oder Arbeitsplätzen, Farbe bekennen. Aber wir müssen auch über die Ausgrenzung von Muslimen oder Roma in anderen europäischen Staaten reden und von der Ausgrenzung und Benachteiligung von Christen in islamischen Ländern in Afrika und Asien. Das ist keine Dialogaufgabe, sondern gemeinsame Herausforderung von Christen und Juden, denn Ausgrenzung von Minderheiten ist gegen das Fundament unseres Grundgesetzes, gegen das Fundament der Menschenrechte, aber vor allem gegen unsere gemeinsame biblische Geschichte (5. Moses 16,12): „Gedenke, dass du selbst Fremdling gewesen bist in Ägypten.“


24. Oktober 2013

Braune Heimat
In vielen Regionalmuseen wird die NS-Zeit vernachlässigt. Nicht nur in Ostdeutschland
Andreas Nachama

Vor wenigen Tagen wurde gemeldet, dass Adolf Hitler jetzt die Ehrenbürgerschaft der Stadt Stavenhagen in Mecklenburg-Vorpommern aberkannt wurde. Man muss nicht denken, dass in 40 Jahren DDR der Anstreicher aus Braunau in Stavenhagen öffentlich verehrt worden wäre. Aber bei der Entnazifizierung von Straßen oder Schulnamen wurde vergessen, sich auch einmal die Liste der städtischen Ehrenbürger genau anzusehen.

Viele westdeutsche Städte haben sich ebenfalls erst sehr spät mit diesem Thema befasst, oft erst in den vergangenen zehn Jahren. Da bleibt mehr als nur eine Spur ungläubigen Unbehagens über diese Geschichtsvergessenheit. Es ist jedoch kein Zufall, dass NS-Geschichte erst etliche Jahrzehnte nach dem Ende des »Tausendjährigen Reichs« auf die Agenda kam und immer noch kommt.

Randthema
Unter dem Titel »Entnazifizierte Zone – zum Umgang mit der Zeit des Nationalsozialismus in ostdeutschen Stadt- und Regionalmuseen« haben sich jüngst in Potsdam Historiker des Themas angenommen. Die Behandlung der NS-Zeit sei in den östlichen Bundesländern »immer noch ein Randthema«, kritisiert der Museumsverband Brandenburg. Aber auch die DDR-Diktatur und die Verfehlungen vieler Bürger im SED-Staat würden von den meisten Heimat- und Regionalmuseen nur ungenügend thematisiert. »Es gibt da eine gewisse Beißhemmung«, sagt Irmgard Zündorf vom Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam.

Fragt man nach den Gründen, wird schnell klar, dass Geschichte dann leicht darstellbar ist, wenn es Schlösser oder Skelette von Steinzeitmenschen gibt. Aber die Dokumentation von NS-Geschichte etwa im Kontext von Konzentrationslagern oder lokalen Außenlagern ist zu schmerzlich. So etwas wird gerne verdrängt.

Was also soll in den Heimatmuseen geschehen? Wenn eine angemessene Aufarbeitung nicht nur der Initiative einzelner engagierter Kuratoren überlassen bleiben darf, sollen sich Bürger und Schüler vor Ort engagieren – zum Beispiel in Geschichtswerkstätten. Dann dürfte es spannend werden, denn diese kleinen Heimatmuseen könnten großen Zuspruch erfahren. Die Erfolgsgeschichte der großen NS-Dokumentationen von Dachau bis Berlin, die allesamt von Bürgerinitiativen erstritten wurden, belegt dies mit ihren hohen Besucherzahlen.


22. August 2013

Die stille Macht der langen Nacht
Sogar in Berlin lässt sich gewachsenes Interesse an religiösen Fragen beobachten
Andreas Nachama

Berlin wird oft als eine religionsfeindliche Stadt beschrieben: Zwar gibt es an fast jeder Ecke eine große, oft aus roten Klinkern gebaute Kirche, aber auch sonntags zu Gottesdienstzeiten sind die wenigsten von ihnen gut besucht. Die jüdische Vorkriegsgemeinde hatte um 1932 etwa 170.000 Mitglieder und gerade einmal 25.000 Plätze in Gemeindesynagogen, und auch die waren nur an den berühmten drei Tagen im Jahr gefüllt. Auch heute ist Berlin eher für anderes bekannt als für Religiöses, kurz: Diese Stadt ist nicht Rom und schon gar nicht Jerusalem.

Da machte am vergangenen Wochenende eine Veranstaltung auf sich aufmerksam, die in das sehr erfolgreiche Berliner Format »Lange Nacht« fällt. Diesmal nicht »der Museen« oder »der Wissenschaften«, sondern eine »Lange Nacht der Religionen«. Es kamen über 10.000 Menschen, um beispielsweise eine Lesung aus den Schriften der Bahai oder eine Einführung in buddhistische Meditation zu erleben. Zuschauen beim muslimischen Gebet mit anschließender Führung in der Sehitlik-Moschee der Türkisch-Islamischen Gemeinde am Berliner Columbiadamm oder ein Rundgang über den Friedhof der St.-Annen-Gemeinde in Zehlendorf mit Besuch der Grabstätte des 68er-Idols Rudi Dutschke.

wohnkiez
Ich selbst war Teil einer Veranstaltung über Inhalt und Klang von hebräischen Psalmen und hatte das Gefühl, dass da nicht nur Gläubige, die Religionsgemeinden verbunden sind, kamen, sondern vor allem jene, die einmal einen vielleicht staunenden, aber in jedem Fall zuschauenden Blick in eine Welt wagen wollten, die ganz nah in ihrem Wohnkiez und doch so fern hinter verschlossenen Türen liegt. Wie mir im Gehen ein unbekannter Besucher sagte: Für solche Einblicke in ihm unbekannte Glaubenswelten muss er sonst viele Tausend Kilometer fliegen und einiges Geld investieren; dabei sei das aufregende Unbekannte doch ganz nah, wenn man sich nur einmal ein Herz fassen würde, in das Gotteshaus einer anderen Religion zu gehen.

Wenn man bedenkt, wie politisch aufgeladen und gewaltbereit religiöses Gegeneinander uns auf den Titelseiten unserer Zeitungen aus anderen Teilen der Welt entgegentritt, wird die politische Dimension dieser »Langen Nacht der Religionen« deutlich. Daher ist auch das Statement von Berlins Innensenator Frank Henkel politisch bedeutend, respektvoller Umgang miteinander sei unverzichtbar für die Stadt. So ist es.


27. Juni 2013

Glauben ohne Zwang
Immer öfter wird Gotteslästerung beklagt. Doch religiöser Frieden lässt sich nicht durch Gesetze verordnen
Andreas Nachama

Antiislamische Schmähvideos, Papst-Karikaturen und Kirchensatiren machen immer wieder Schlagzeilen. Für die einen sind sie freie künstlerische Meinungsäußerung, für anderen eklatante Provokation und Verletzung religiöser Gefühle. In der Folge wird immer wieder die Forderung erhoben, Blasphemie juristisch zu verfolgen und vorhandene Gesetze zu verschärfen.

Zunächst stellt sich die Frage: Was ist Blasphemie überhaupt, was bedeutet Gotteslästerung im Judentum? In den »Sprüchen der Väter« (5,11) wird Gotteslästerung als Chilul HaSchem – die Entweihung oder Entwürdigung des Gottesnamens – bezeichnet, also das Gegenteil von Kiddusch HaSchem, Heiligung des Gottesnamens.

Kollektiv
Als Kind lernte ich, dass es eine unverzeihliche Entweihung des göttlichen Namens sei, wenn man als Jude einen Nichtjuden bewusst übervorteilt oder verletzt. Denn damit bringe man nicht nur sich oder, wegen der Kollektivhaftung, auch andere Juden in Verruf, sondern man verneine zudem Gottes Existenz in dieser Welt.

Heute würde ich es auch als Gotteslästerung bezeichnen, wenn Juden einen Dissens in einer Gremiensitzung zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung eskalieren lassen, die bundesweit ein vernichtendes Presseecho auslöst.

Aus meiner Sicht waren aber die größten Blasphemiker jene, die zum heiligen Dienst ordiniert waren und doch schwiegen, als Millionen von Männern, Frauen und Kindern ermordet wurden, nur weil sie Juden waren. Oder jene in kirchlichen Diensten, die in den vergangenen Jahren bewusst wegsahen, obwohl sie hätten wissen können, dass Kinder für sexuelle Handlungen missbraucht wurden. Das ist Blasphemie. Aber diese Art der Gotteslästerung steht bereits als krimineller Tatbestand im Strafgesetzbuch und ist wohl auch mit dem Vorschlag zur Einführung eines Blasphemieverbotes nicht gemeint.

Exegese
Gelegentlich gerate ich mit einem islamischen Kollegen in ein Gespräch über Gott und die Welt. Die Grenzen des Diskurses mit Muslimen sind schnell erreicht, wenn es um die in der akademischen Debatte übliche Textkritik am Koran geht. Rabbinische Exegese im Talmud oder Midrasch der Fünf Bücher Moses ist oftmals dem eigentlichen Text diametral entgegengesetzt, aber eben keine Blasphemie. Ich persönlich finde die Übersetzung der Bibel in der sogenannten Volksbibel in Umgangssprache vollkommen indiskutabel: Sie verhunzt die »heilige« Schrift, ich würde sie niemandem empfehlen. Aber ich käme nicht auf die Idee, sie als Blasphemie zu bezeichnen.

Was Religionsgegner, Antisemiten oder andere über Bibel, Talmud und andere elementare Schriften auch immer schreiben mögen: Grenzen setzt unter anderem das Strafgesetzbuch, das Strafen für den Fall vorsieht, dass jemand »den öffentlichen Frieden« gefährdet, indem er die religiösen Bekenntnisse anderer beschimpft.

Antisemitische Hetzschriften lassen sich ohnehin durch die internationale Netzwerkstruktur des Internets kaum wirksam bekämpfen. Da wirkt es schon wie ein Gruß aus fernen Welten, wenn postuliert wird, die Worte des Propheten seien im Islam unangreifbar.

Debatte
Zu welchen Verwerfungen solche Positionen führen können, steht uns durch den Fall Salman Rushdie und die Mohammed-Karikaturen einer bis dahin kaum über Dänemark hinaus bekannten Tageszeitung vor Augen. Aber wenn es nun wirkliche Verunglimpfungen vor oder in Gotteshäusern gäbe? Würde eine Person einen Gottesdienst durch blasphemische Äußerungen stören, könnte jede Gemeinde von ihrem Hausrecht Gebrauch machen. Geschieht dies in der Öffentlichkeit hierzulande, wird vor dem Hintergrund der Schoa die Debatte ihre Grenzen finden; liefe es unter dem Deckmantel einer »doch wohl erlaubten Kritik am jüdischen Staat«, wird man die Meinungsfreiheit gelten lassen müssen.

Dort, wo es eine enge Verflechtung zwischen Religion und Staat gibt, sind die Folgen »blasphemischen« Verhaltens unabsehbar: Die Verurteilung der Band »Pussy Riot« in Russland lässt ahnen, wohin eine solche Gesetzgebung führen kann. Wollten wir wirklich den Titel des Time-Magazins vom 6. April 1966 »Is God Dead?« als Blasphemie verfolgen und die Herausgeber und Autoren durch juristische Schritte kriminalisieren? Zu allen Zeiten hat es Menschen gegeben, die Gott und den Weg zu ihm nicht gefunden oder erkannt haben. Sie werden nicht Teil der Olam Haba, des ewigen Lebens, sein. Damit müssen sie zurechtkommen.

Alles andere ist in unserer demokratischen, zunehmend multikulturellen Gesellschaft durch Recht, Gesetz und – genauso wichtig – durch die tägliche Lebenspraxis gesichert. Und wenn es Länder gibt, in denen dieser Konsens nicht besteht, muss möglicherweise nachgebessert werden, weniger durch Gesetze gegen Blasphemie, als durch mehr Toleranz und Respekt vor dem Glauben, Lebensentwurf oder der philosophischen Grundorientierung der Anderen.


24. Januar 2013

Alltag trifft Geschichte
Deutschland kann sich an vielen Orten seiner Vergangenheit bewusst werden – ein Berliner Lehrstück
Andreas Nachama

Die gedanklichen Ausgangspunkte für das Berliner Themenjahr 2013 sind der 80. Jahrestag der Machtübernahme der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 und der 75. Jahrestag der Novemberpogrome 1938. Erinnert werden soll an die vom NS-Regime brutal zerstörte Vielfalt der Stadt.
Kulturstaatssekretär André Schmitz sagte kürzlich, Berlin werde als »›Rom der Zeitgeschichte‹ mittlerweile weltweit als eine Stadt wahrgenommen, die in ihrer Erinnerungsarbeit Vorbild für viele andere sein könnte«. Die Stadt investiert in dieses Themenjahr insgesamt fünf Millionen Euro, so viel wie noch nie in eine derartige Veranstaltungsreihe der Erinnerung.

quantensprünge Vergleicht man die Bundeshauptstadt 2013 mit Westberlin anno 1973 oder 1983, so kann man tatsächlich Quantensprünge im Prozess der Bewusstwerdung von Zeitgeschichte erkennen. Noch 1973 wollte der Berliner Senat in der Wannsee-Villa, in der der Mord an den europäischen Juden am 20. Januar 1942 koordiniert wurde, keine historische Dokumentation einrichten, mit dem Argument, es sei doch angemessener, an diesem authentischen Ort ein Kinderheim statt einen Anziehungspunkt für Ewiggestrige zu haben.
1983 waren es im Anschluss an die 1979 ausgestrahlte TV-Serie Holocaust eine Berliner Bürgerinitiative und die Geschichtswerkstätten, die den 50. Jahrestag des 30. Januar 1933 zum Ausgangspunkt einer vielgliedrigen, in der Öffentlichkeit sehr beachteten Veranstaltungs- und Ausstellungsreihe machten.

rudimentär 1983 gab es in Westberlin nur eine damals noch rudimentäre Schau zum Widerstand am 20. Juli 1944 im Bendlerblock und die Dokumentation »Fragen an die deutsche Geschichte« im Reichstagsgebäude. In Ostberlin waren die ideologisch auf den kommunistischen Widerstand ausgerichteten Präsentationen im Museum für deutsche Geschichte und in der Mahn- und Gedenkstätte Sachsenhausen vor den Toren der Stadt untergebracht.
Heute kann man an zahlreichen Orten in unterschiedlichsten Ausformungen die historische Dokumentation jener zwölf Jahre, vier Monate und acht Tage finden, wahrnehmen oder begehen. Dass das Jüdische Museum und die Topographie des Terrors nach dem Pergamon-Museum auf den ersten Plätzen der Top Fünf der Berliner Ausstellungseinrichtungen mit einem jährlichen Millionenpublikum liegen, war noch vor einem Jahrzehnt völlig undenkbar.

»Schoa-Business« Dabei geht es nicht nur um »Schoa-Business«, wie der Publizist Henryk M. Broder gelegentlich spöttelt. Berliner, Deutsche und ausländische Besucher wollen wissen, wie es dazu kommen konnte, dass die Stadt das »Zentrum des Bösen« wurde. Wie konnte es gelingen, die (Weimarer) Demokratie innerhalb von kaum mehr als 100 Tagen zu zerstören und eine »Volksgemeinschaft« zu formen, die alles, was sich politisch, kulturell oder vermeintlich rassisch herausdefinieren ließ, vernichtete? Welche Auswirkungen hatte dies, damals wie heute?
Hierzu finden sich in der Erinnerungslandschaft Berlins sehr unterschiedliche Präsentationen: mitten im Stadtzentrum das »Denkmal für die ermordeten Juden Europas« oder das »Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma« – auf einzelne Opfergruppen bezogene, emotional sehr eindrückliche Erinnerungszeichen. Dann gibt es die am Stadtrand gelegene Dokumentation in der Wannsee-Villa, die insbesondere auf historisch interessierte Studiengruppen nachhaltig wirkt, oder die den NS-Terror im Allgemeinen und auf unterschiedlichste Opfergruppen ausgerichtete Topographie des Terrors, die zu dokumentieren versucht, was in einem Land geschieht, in dem es eine nicht von unabhängigen Gerichten kontrollierte, sich über alles hinwegsetzende Polizei gibt, die mit der Regierungspartei gleichgeschaltet ist.

unkontrolliert Berliner und interessierte Besucher der Stadt werden im Themenjahr 2013 zusätzliche Angebote finden, wie etwa zum frühen Terror oder zur Presse im Nationalsozialismus. Und man wird feststellen: Es traf nicht nur Juden oder »Zigeuner«, Andersdenkende, Kommunisten oder Sozialisten, »entartete« Maler, Bildhauer oder Musiker. Es traf auch Homosexuelle, Kranke und Behinderte. Und man wird schnell begreifen: Noch immer gibt es viele Staaten, in denen eine Partei oder politisch aufgestellte Religionsgemeinschaft unkontrolliert Definitionen vornimmt, in denen Polizei, Militär oder andere scheinbar legitimierte »Wächter« eine Gemeinschaft proklamieren, die Menschen ausschließt, weil sie anders glauben, denken oder lieben.
Die Besucher Berlins treten in die historischen Ausstellungen nicht mit gesenktem Haupt, sondern wach und konzentriert. Sie betrachten aufmerksam, manchmal ungläubig, Fotos und Dokumente angesichts einer Gegenwart, die diese Strukturen – wenn auch nur durch diplomatische Beziehungen mit solchen Staaten – noch immer duldet. Berlins Themenjahr ist ein Lehrstück in Zeitgeschichte. Fünf Millionen, die die Stadt hier investiert, sind besser angelegt als bei so manch ambitioniertem Neubauprojekt.

 

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