Tagebuch

19. 06. 2001
Wann feiert ein jüdischer Astronaut den Sabbat?
Nachama über das Moderne im Rabbinatsamt
Von Gernot Wolfram
Berlin - Nehmen wir den seltsamen Fall an, der bisher noch nicht eingetreten ist: ein jüdischer Astronaut startet in den Weltraum, oder, prekärer noch, zwei jüdische Astronauten aus unterschiedlichen Ländern gehen auf Raumfahrt - welche Ortszeit ist dann die für den Sabbat verbindliche? Die des jeweiligen Landes, aus dem die Astronauten kommen, oder gibt die Herkunft des älteren die gültige Stunde vor?
Das sind in ihrer Kuriosität dennoch komplexe Fragen für einen Rabbiner, zu dessen Aufgaben es gehört, "Antworten für Probleme zu finden, ehe sie überhaupt aufkommen". So jedenfalls definiert Andreas Nachama, selbst Rabbiner und vor kurzem noch Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, das Amt des jüdischen Gelehrten, das bis auf die Zeit des Tempels in Jerusalem zurückgeht. Bei den Astronauten hat man sich schließlich religiös erleichtert darauf geeinigt, dass die Ortszeit der Station, wo die Rakete abhebt, für den Sabbat die verbindliche Orientierung ist. Bei anderen illustren Streitfällen brüten bis heute die jüdischen Schriftkenner über Lösungen.

Andreas Nachama, der bereits während seiner Amtszeit als Gemeindevorsitzender den Vortrag über "Wunschvorstellungen und Realität in der Rolle des Rabbiners" zugesagt hatte, sprach in der Katholischen Akademie mit Kennerschaft und Enthusiasmus über die verschiedenen Möglichkeiten eines Rabbiners, sich als Ratgeber, Lehrer, Sozialarbeiter und Seelsorger, aber auch als politischer Aktivist am Leben seiner Gemeinde zu beteiligen. Als Unterstrom seines Vortrags, der mit Ruhe und Sorgfalt frei vorgetragen wurde, hörte man bei Nachama (angetan mit schwarzer Kippa und dunklem Anzug) eine gewisse Wehmut und Enttäuschung heraus, die aus dem Wahldebakel herzurühren scheint, in der die Wahlkampfgruppe Nachamas ("Jüdische Einheit") zwischen die Räder von Polemik und unsachlichen Diskussionen geriet.

Nachama, der für ein offenes Judentum steht, in dem nicht die Shoa den Kernmoment neuer jüdischer Identität bildet, sondern das kulturelle und religiöse Selbstbewusstsein, scheint jedenfalls erleichtert zu sein, in Zukunft nicht mehr in marginale Diskussionen verwickelt zu werden. "Ich bin niemand, der gerne polarisiert", sagt er. In Anbetracht seiner profunden historischen Kenntnisse wird deutlich, dass der Wissenschaftler und Politiker in ihm stets in einem schwierigen Spannungsverhältnis standen. Den praktischen Ansprüchen einer der schwierigsten jüdischen Gemeinden in Deutschland gerecht zu werden und zugleich ein visionäres Konzept im Auge zu behalten, das nicht mehr und nicht weniger will als eine Neubesinnung auf die Wurzeln der jüdischen Kultur, lässt sich vielleicht erst im Nachhinein als fast unmöglicher Spagat erkennen.

Dass Nachama gerade den wissenschaftlichen, forschenden und somit politischen Aspekt in der Rolle des Rabbiners betont, der im Unterschied zu den orthodoxen Rabbinern, die ganz aus der Tradition schöpfen, einen modernen Gesellschaftsanspruch enthält, ist für den christlich-jüdischen Dialog von großer Bedeutung.

Die moralische Sonntagsrede, wie sie die Kirchen hier zu Lande praktizieren, erreicht die Menschen kaum noch. Der religiöse Gelehrte muss immer auch ein zweifelnder Mitdenker der Gesellschaft sein, in der er lebt. Insofern sind das kuriose Sabbat-Mahl im Weltraum und die weniger kuriose Frage nach einer undogmatischen religiösen Ethik in der modernen Welt nicht nur Problemstellungen für Rabbiner, sondern für alle diejenigen, die, wie Nachama sagt, "keine moralischen Richter, sondern Ratgeber suchen".

 
14. Oktober 2001 Der Tagesspiegel  

Wo ist Gott?
....So ihr mich von ganzem Herzen sucht, so will ich mich finden lassen, sagt der Ewige. Was für eine Suche ist gemeint?                        ...
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Aus der  Rede anläßlich der Enthüllung eines Bauschildes für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen in Berlin:  
10.Oktober 2001  

Lange Zeit in meiner Kinder- und Jugendzeit habe ich nicht verstanden, warum dieser Mann oder jene Frau zu denen gehörte, von denen mein Vater sagte, auch ein Auschwitz Überlebender, oder meine Mutter, auch ein U-Boot, ein Illegaler oder eine Illegale, aber kein Kommunist, kein Sozialdemokrat, kein Zeuge Jehova, kein Sinto oder Roma und auch kein Jude. Was dann?

Die Juden werden meist, wohl weil sie die zahlenmäßig größte Opfergruppe der NS-Herrschaft waren, als d i e Opfergruppe angesehen, ja es bürgerte sich ein, nur noch von der Schoa und dem Holocaust zu sprechen und die anderen Opfergruppen auszublenden. Damit geht man nur den Nationalsozialisten auf den Leim, die die anderen Opfergruppen, weil sie doch potentiell Volksgenossen hätten sein können, ausblendeten. Das mag die anderen Opfergruppen zu Recht schmerzen, aber eine besondere Ehre für die so freigestellten Juden ist es auch nicht, denn es vernebelt, dass ihre Verfolgung wie die anderer Gruppen reine Willkür der Nationalsozialisten war, die eben das Grundmotiv der französischen Revolution, das da lautet, vor dem Gesetz sind alle gleich, vernachlässigte. Heute wissen auch die Juden in aller Welt, sie haben in einer Gesellschaft nicht mehr Rechte, als die jeweils schwächste Minorität. Wir freuen uns für unsere geschundenen Schwestern und Brüder, dass unsere Gesellschaft ihren Nachfahren gleiche Rechte einräumt, ja es ist ein gesellschaftlicher Umbruch, dass eine Person, die sich zu ihrer Homosexualität öffentlich bekennt, heute Regierender Bürgermeister ist. Wäre das vor sieben Jahrzehnten möglich gewesen, bedürfte es unserer heutigen Zusammenkunft nicht.                                                                                  ............mehr

 
27.November 2001 die tageszeitung  

Philipp Gessler: Andreas Nachama? Die Macht des Wortes
Als er noch Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde war, beklagte Andreas Nachama gern, dass er von vielen nur noch in seiner Funktion wahrgenommen werde: nicht mehr als der Bürger und Berliner Nachama. Nun ist Nachama, der heute 50 Jahre alt wird, schon etwa ein halbes Jahr nicht mehr Gemeindechef. Seit dem 1. September arbeitet er wieder als Geschäftsführer der "Topographie des Terrors" - ein Posten, von dem er nur beurlaubt war. In dieser neuen, alten Position ist er nicht mehr so häufig öffentlich präsent - doch vernehmbar gleichwohl: als engagierter Bürger, Citoyen, der seine Stimme für die Res publica erhebt.
 
 

 
Die Gartenkunst 1/2003 (15. Jahrgang)  
   
Entwurfsplan Friedhofserweiterung 2000
Planung Dr. Jacobs und Hübinger, Berlin | Büro für Gartendenkmalspflege und Landschaftsarchitektur

Die Erweiterung des Jüdischen Friedhofs am Scholzplatz in Berlin
Joachim G. Jacobs
"[...] Trotz der Bemühungen seiner Vorgänger gelang es erst dem Gemeindevorsitzenden Rabbiner Dr. Andreas Nachama nach zähen Verhandlungen mit dem Senat von Berlin, eine weitere, 1 ha große Erweitungsfläche [vom Land Berlin] erwerben zu können. [...] Am 15. Dezember 2000 wurde die Erweiterungsfläche durch den Gemeindevorsitzenden Dr. Andreas Nachama in Anwesenheit de Gemeinderabbiner, des Senators für Stadtentwicklung, Peter Strieder und vieler Gemeindemitglieder übergeben."[...]

 

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