21.September 2005

 

Ich habe Euch nicht vergessen
Zum Tod von Simon Wiesenthal
Andreas Nachama

fortsetzung

Mit der Verhaftung Adolf Eichmanns, der im Rahmen des berüchtigten Referats IV B 4 des Reichssicherheitshauptamtes die Organisation der "Endlösung der Judenfrage" übernommen hatte, entstand der Mythos Wiesenthal. Von Beruf Architekt wurde er zum Spurensucher, der das selbstgefällige Einrichten der Nachkriegsgesellschaft in Deutschland und Österreich nicht mitmachte und dem kollektiven Vergessen der Bestrafung der nationalsozialistischen Täter seine Aufklärungsarbeit entgegensetzte.

In seinem Buch "Ich jagte Eichmann" notierte er bescheiden: "Es war Teamwork." Ein Büro mit drei Räumen genügte ihm, um den Behörden in etwa 6 000 Fällen jene oft entscheidenden Hinweise zu geben, um die Nazitäter vor Gericht zu bringen. Diese Räume werden nun nach seinem Tod in dem nach ihm benannten Museum of the Holocaust and Tolerance in Los Angeles nachgebildet werden und zeigen, mit welch simplen Mitteln er seine Erfolge erzielt hat. Seine darin gesammelten Aktenberge werden, soweit nicht schon in Yad Vashem, ebendort in Kalifornien aufbewahrt werden. Freilich wird es einer umfänglichen Dokumentation bedürfen, denn Wiesenthal konnte mit nachtwandlerischer Sicherheit aus diesen scheinbar ungeordneten Aktenbergen die jeweils richtigen Belege herausfischen.

Sprichwörtlich war seine Freundlichkeit und seine Zurückhaltung, gepaart mit einer großen Neugier. Er ließ es sich nicht nehmen, Forscher, die sein Archiv benutzen wollen, inquisitorisch zu befragen, immer in der Hoffnung, für einen noch ungelösten Fall einen - aus der Sicht des Befragten vielleicht zufälligen - Hinweis zu bekommen. Trotz seiner Bescheidenheit hat er Ehrungen wie Doktortitel und Auszeichnungen gerne entgegengenommen und die Urkunden dann in seinem "Archiv" abgelegt.

Simon Wiesenthal war davon überzeugt, dass Demokratie und Respekt vor anderen Menschen nicht wie Luft und Sonne gottgegeben sind, sondern nur durch Erziehung in Gesellschaften hervorgerufen werden können. So entwickelte er zusammen mit anderen das Konzept für ein Toleranzmuseum, das durch "holocaust education" seine Erfahrung und die seiner Leidensgenossen auch zukünftigen Generationen vermittelt. In quasi begehbaren historischen Bühnenbildern wird die Geschichte der Ausgrenzung der Juden im deutschsprachigen Raum bis zum Mord in den Gaskammern für die Besucher dieses Museums nachvollziehbar, die Besucher werden Teil des Geschehens.

Aber Simon Wiesenthal ist nie bei der Geschichte geblieben - er hat keine historischen Bilderbögen gezeichnet, sondern immer auch die Gegenwart in seine Konzepte einbezogen. So auch in Los Angeles, wo die Rassenunruhen der frühen Neunzigerjahre mit etwa 30 Prozent der Ausstellungsfläche nicht nur als eine aktuelle Fußnote erscheinen, sondern als elementarer Bestandteil seiner Beschäftigung mit der Toleranzidee. Der Holocaust war für Simon Wiesenthal kein Betriebsunfall der Geschichte, keine Salonkriminalität, sondern eine Gesellschaftskrankheit - ein Kapitalverbrechen, das in seiner logischen Konsequenz immer zu Mord führt.

Simon Wiesenthal war aber auch ein Streiter. In Berlin hätte er als Mahnmal lieber ein solches Museum des Mordes an den europäischen Juden und der Toleranz gesehen. In Israel hat er für einigen Aufruhr gesorgt, als er in einem Kibbuz ehemaliger Ghettokämpfer nüchtern erklärte: "Für mich sind junge Österreicher oder junge Deutsche nicht besser oder schlechter als junge Israelis." Selbstredend, dass er "Schuld" für "individuell, nicht für kollektiv" hielt.

Simon Wiesenthal wurde am 31. Dezember 1908 in Buczacz /Galizien geboren. Sein Vater, ein wohlhabender Kaufmann, fiel im Ersten Weltkrieg. Ab 1932 arbeitete er in Lemberg in einem Architektenbüro. Als deutsche Truppen 1941 die Sowjetunion überfielen, wurde er von ukrainischen Milizionären erstmals verhaftet. Seine Frau konnte nach Warschau entkommen, wo sie überlebte. Wiesenthal selbst gelang zunächst die Flucht aus einem Zwangsarbeiterlager. Nach seiner erneuten Ergreifung begann sein Leidensweg durch insgesamt 12 Konzentrationslager. Am 5. Mai 1945 wurde er im KZ Mauthausen von US-amerikanischen Truppen befreit. Er fand seine Frau wieder und begann zunächst für die US-Armee mit der Suche nach Naziverbrechern. Zusammen mit anderen gründete er bereits im Jahr 1947 ein erstes Dokumentationszentrum, das er jedoch wegen der allgemeinen Gleichgültigkeit während der ersten Phase des Kalten Krieges Naziverbrechern gegenüber bald aufgab und die Akten Yad Vashem in Israel übergab. Seine Briefe unterschrieb er als "Diplomingenieur" und mit dem Zusatz "Leiter des Dokumentationsarchivs des Bundes jüdischer Verfolgter des Naziregimes".

Simon Wiesenthal wurde einmal von einem Shoa-Überlebenden, der es zu etwas gebracht hatte, gefragt, warum er seinen Beruf als Architekt nicht wieder aufgenommen habe, er wäre doch sicher reich geworden. Er antwortete: "Du bist ein religiöser Mensch, Du glaubst an Gott und an die nächste Welt. Ich glaube auch. Wenn wir einst in die andere Welt kommen, werden uns die Millionen, die in den Lagern ermordet wurden fragen: ,Was habt Ihr in Eurem Leben gemacht?'" Auf diese Frage wird es viele Antworten geben. Du wirst sagen: "Ich wurde Juwelier." Ein anderer wird sagen: "Ich habe mir ein schönes Haus eingerichtet." Ich werde sagen: "Ich habe Euch nicht vergessen."

Wiesenthal war als Vorkämpfer der Täterforschung einerseits eine Institution, andererseits hat er durch die von ihm ins Leben gerufenen Institutionen dafür gesorgt, dass seine Arbeit sich fortsetzen wird, auch wenn die Generation der Zeugen der Shoa abtritt. Am Dienstag ist Simon Wiesenthal im Alter von 96 Jahren in Wien gestorben. Die Erziehung zur Toleranz bleibt sein Vermächtnis.

Andreas Nachama leitet die Stiftung Topographie des Terrors und ist Rabbiner in Berlin.


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