FORTSETZUNG

Magazin für die ehemaligen der Freien Universität Berlin | Dezember 2005
Andreas Nachama
- Exponierter Vertreter jüdischen Geisteslebens in Berlin

Anke Ziemer

Fortsetzung von Vorseite

Wesentlich wichtiger sind für den streitbaren Historiker jedoch die inhaltlichen Fragen: Wie kann man an die Opfer erinnern, wie über die Täter informieren und durch kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus emotionales Engagement entwickeln und Verständnis für Demokratie befördern, wenn demnächst auch die letzten Zeitzeugen verstorben sind? „Wir besitzen zwar unzählige Detailstudien über die NS-Zeit, aber uns fehlen die Gesamtdarstellungen und eine wirksame Holocaust-Erziehung“, bilanziert der gebürtige Berliner sechzig Jahre nach Kriegsende. „Während die Forscher jahrzehentelang ihre Fußnoten in die Bibliotheken getragen haben, dominiert in der Öffentlichkeit weiterhin das Halbwissen.“ Doch Kritik allein ist seine Sache nicht. Als Direktor des neugegründeten Bernard Lander Institute for Communacation about the Holocaust and Tolerance will er dem Gelehrtenwissen nun jenseits der staatlichen Strukturen zum Coming out verhelfen; zunächst in öffentlichen Vorträgen und praxisorientierten Seminaren für Multiplikatoren der Erwachsenenbildung, später auch in einem eigenen Studiengang an der jüdisch-amerikanischen Privatuniversität Touro College Berlin, dem das Bernard Lander Institute angegliedert ist. „Wir richten uns nicht nur an die Mehrheitsgesellschaft, sondern ebenso an die jüdische Gemeinschaft“, erläutert der ehemalige Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, dessen Vater, der berühmte Oberkantor Estrongo Nachama, sich nach der Befreiung aus dem KZ Auschwitz in Berlin niedergelassen hatte. „Denn durch die russischsprachigen Zuwanderer wird der Nationalsozialismus inzwischen auch innerhalb der jüdischen Gemeinschaft unterschiedlich rezipiert.“

Seine Karriere als Vermittler von Geschichte begann der Judaist und promovierte Historiker nach seinem Studium an der Freien Universität Berlin im Rahmen der Berliner Festspiele, zunächst als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Preußen-Ausstellung, dann als Koordinator der Öffentlichkeitsarbeit für die Berliner 750-Jahr-Feier, schließlich in der Ausstellungsleitung „Jüdische Lebenswelten“. Parallel dazu veröffentlichte er zahlreiche Publikationen zur jüdischen Geistes- und Lokalgeschichte. 1994 wurde er zum Direktor des Dokumentationszentrums Topographie des Terrors berufen, für das er seit 1987 bereits als Projektleiter tätig war. „Ich hoffe, daß uns die Jury kein Zumthor II beschert“, kommentiert der 54-Jährige die neuerliche Ausschreibung für die Gestaltung des Areals. „Am liebsten wäre mir ein ‚undekorierter Schuppen’, ein Zweckbau also, der das Dokumentations- und Besucherzentrum beherbergt, das brachliegende Gelände aber als offene Wunde erhält.“

Die Frage nach der Verbindung von Geschichte und Gegenwart stellt sich für Andreas Nachama nicht nur in der öffentlichen Debatte über das Erinnerungswesen, sondern auch in der innerjüdischen Diskussion über die Zukunft jüdischen Lebens. Als Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz des Zentralrates der Juden in Deutschland und als Rabbiner der 1999 wiedereröffneten Synagoge Hüttenweg ist er täglich neu herausgefordert, mit den Mitgliedern seiner Betergemeinde zeitgemäße, progressive Formen zu entwickeln, damit liberale Juden im 21. Jahrhundert ihre religiösen Traditionen erhalten und mit dem Alltag der modernen Gesellschaft verbinden können.

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